Vom Leben geliebt

"Manchmal... liebt einen das Leben bis zur Bewusstlosigkeit.", denkt Marie, während sie vorsichtig, auf wackligen Beinen vorwärtswankt, schwindelt... fällt?

Montag, Februar 26, 2007

Leben im Flur - Fremde im Zug - Mittendrin... ich?

Ich campe im Flur. Oder besser in dem winzigen Raum, der dafür sorgt, dass nur eine Tür ins Bad führt. Ich ernähre mich von Löffelbiscuits mit Kakao. Die Türen zu Küche und Schlafzimmer stehen offen, die Fenster in beiden Räumen auch. Es ist Musik auf den Straßen. Oder zumindest meine ich, welche zu hören. Ich lausche den Gesprächen auf der Straße, die erstaunlich gut zu hören sind, dafür dass ich mich im 4. Stock befinde. Ich trinke das Leben jedes Passanten, denke mir aus, wie er wohl aussieht, wo er herkommt, was er vor hat...
Gestern gegen 1, packte mich plötzlich eine seltsame Neugier. Lange nachdem Nils gegangen war und lange nachdem der Kaffee in seiner Tasse völlig vergessen kalt geworden ist, lange nachdem ich Stunden - Ach Leben! - zuvor wieder überzeugt wurde: Alles kommt, wie es soll. Und lange, lange nachdem Nils im Zug nach Hamburg dieses Mädchen kennengelernt hat, das zufällig auch aus dieser Stadt kommt, zufällig auch nach Hamburg fuhr und ihm in der nächsten Woche zufällig 3 mal begegnete, das Mädchen, das - wie ich nach mehrmaligem Versichern, dass ich mich für ihn freue und es mir gar nichts ausmache und ich auch jemanden kennen gelernt hatte - wunderschön war: Groß und blond und intelligent und mit einem Musikgeschmack - "Unvorstellbar!" - und irgendwie... ich weiß nicht mehr, wie Nils es gesagt hat... "Seelenverwandschaft" hat er nicht gesagt, aber ich glaube, das meinte er.
Danach jedenfalls. Nachts. Da steh ich am Fenster und erhasche einen Blick auf den älteren Mann im zweiten Stock gegenüber und frage mich, was er wohl macht, was wohl wird und fühle plötzlich Unendlichsommer am Himmel, reiße die Fenster auf, höre Vogelgesang, fackle fast die Wohnung mit Zigaretten ab, mache leise Musik an und lege mich mit dem Schlafsack in den Flur. Eine plötzliche Neugier, die mich einerseits dazu trieb jeden Funken Leben, der an mir vorbeiflog, aufzunehmen, anzusehen, umzudrehen und weiterzugeben, es mir andererseits aber nicht erlaubte, selbst direkt am Leben teilzunehmen. Einfach weil ich glaubte, meine Augen könnten mich verraten oder meine kribbelnden Hände und die Menschen könnten Angst bekommen. Vor diesem Durst. Vor dem ich selbst ein bisschen Angst habe.

Jetzt liege ich immer noch hier. Denke nach, höre zu, friere, denke an Romeo, schreibe die Leben, die ich ausdenke an die Wände... morgen Nachmittag jedoch, habe ich keine Wahl mehr, muss ich wieder arbeiten... Romeo hat zweimal angerufen und Nachrichten hinterlassen, ich habe zugehört. Nicht mehr. Morgen vielleicht. Ruf ich ihn an. Nicht weil sich unsere Verbindung geändert hat. Nur ich, ich konnte das Glück - denn das war das Rauschen in meinen Ohren - das mich so plötzlich überfiel, nicht sofort teilen konnte, nicht einfach so.
Glück darüber, wie Leben geht. Über Romeo und Nils, über Kaufland und noch-nicht-studieren, über die eigene Wohnung und die Gewissheit tatsächlich immer noch jung zu sein. Immer noch. Glück.

Ich klebe rote Kreise, die eigentlich dazu gedacht sind, Feiertage im Kalender zu markieren, an die Wände: Einen für jedes Lachen, das mich aus dem Nichts überkommt, hier im Februar, in meinem ausgekühlten Flur, im Schlafsack, mit Löffelbiscuits und Kakao. Leben im Flur. Zigaretten vor den Sternen. Besser als echt. Und immer noch der übergroße Hunger, nach allem, was mich trifft. Oder die Luft um mich herum streift. Gegenüber spielt jemand bei offenem Fenster Gitarre. Hübsch.